Wer erinnert sich noch daran, dass sich Angehörige von ihren todkranken Verwandten nicht verabschieden durften? Dass Tote in Plastiksäcken beerdigt wurden? „Mir war es wichtig, dass es daran eine Erinnerung gibt. Ich bin überzeugt, dass sogar damals, als das alles passierte, nicht viele Menschen darum wussten“, sagte die gerade mal 14-jährige Nicole Kammerloch aus Nidda im Anschluss an ihre Lesung in der Vogelsbergschule in Schotten. Ihr Text „Für Elise“, den die Jury beim 19. Jugend-Literaturpreis der OVAG im vergangenen Jahr auszeichnete, basiert auf einer wahren Geschichte – der ihrer Großmutter Elisabeth Kammerloch, die im Mai 2021 an Corona verstarb, das heißt, eigentlich an einer Lungenentzündung. Sie hätte gerettet werden können, wäre sie nur früher ins Krankenhaus eingeliefert worden.
Aufmerksam und gleichsam betroffen folgten die Schüler der Vogelsbergschule der Geschichte von Nicole. Was gewiss keine einfache Aufgabe ist, Jugendliche in diesem Alter – fünfzehn, sechszehn, siebzehn Jahre – mit einem schwierigen Stoff in den Bann zu ziehen. Doch Nicole Kammerloch ist mit ihrer Kurzgeschichte der Drahtseilakt gelungen, einen Weg zu finden zwischen persönlicher Betroffenheit und professioneller Distanz, weswegen ihr Text auch in keiner Zeile in Rührseligkeit abdriftet. Behutsam schildert sie den Ausbruch der Krankheit bei ihrer Großmutter, schildert die Verschlimmerung, das Undenkbare immer noch weit von sich weisend, Routine und Ablenkung im Schulalltag (der aber mittlerweile auch alles andere als der gewohnte Alltag ist) suchend. Sie schreibt über etwas, das kaum zu verstehen ist, aber auch über eigene Ängste: „Was, wenn ich sie vergessen würde? Wenn ich irgendwann nicht mehr wissen würde, wie sie aussah und wie ihre Stimme klang?“ Bereits in jungen Jahren hat die Erzählerin eine bittere Lektion gelernt: „Warum braucht es erst den Tod, damit wir Menschen wertschätzen?“
Begleitet wurde Nicole Kammerloch, die das Gymnasium in Niddas besucht, von zwei weiteren Preisträgern des Wettbewerbs. Nicht einfach der Sprung von Nicoles Geschichte zu jener von Heidi Lubina aus Hammersbach, Schülerin der Limesschule in Altenstadt. Aber es ist andererseits ein guter Beleg für die Themenvielfalt des Wettbewerbs. „Died alive“ der 15-jährige ist eine harte Geschichte, die sich liest wie das Exposé für einen dramatischen Film, der in Paris spielt. Er handelt von einem Mädchen, das zwischen den geschiedenen Eltern keine rechte Heimat findet, an einer für ihr Leben entscheidenden Stelle wieder zu ihrer drogenabhängigen Mutter zieht. Eine Entscheidung, die sie mit ihrem Leben bezahlen soll …
Bereits zum sechsten Mal schrieb sich die 22-jährige Friedbergerin Pia Bonn unter die Gewinner mit ihrem Text „Das Café der Uhren“. Die Idee zu der Geschichte, so die Autorin war ihr während der Corona-Zeit gekommen. Als nichts mehr so schien, wie es kurz vorher noch gewesen war. Im „Café Zeitlos“, in dem an den Wänden zahlreiche Uhren hängen, von denen jedoch keine einzige die richtige Zeit anzeigt – für Pia Bonn ein Bild dafür, wie damals so vieles aus dem Gleis sprang – treffen unterschiedliche Menschen mehr oder weniger zufällig aufeinander. Jeder beladen mit seinen eigenen Problemen und Problemchen. Geschickt orchestriert Pia Bonn dieses Szenario, im Bewusstsein, dass auch am nächsten keine der Uhren die richtige Zeit anzeigen wird. Wenn die Zeit eben aus dem geraten Takt ist …
Das Buch Gesammelte Werke, 218 Seiten, gebunden, kostet 12 Euro und kann bestellt werden bei hoppe@ovag.de oder 06031 6848-1193.
Einsendeschluss für den Jugend-Literaturpreis der OVAG 2023 ist am 15. Juli. Näheres unter matle@ovag.de